Smütech

Schulze IT-Schulung und Dienstleistungen

U36 Gans für Zwei

Eine Weihnachtsgeschichte

20.12.2025 51 min

Zusammenfassung & Show Notes

Dein Spezialist für assistive Technologie, Schulung, Fernwartung und Fritz!Box-Optimierung
Hier sind wir: https://schulze-graben.de

Eine Weihnachtsgeschichte für all die jenigen, die an das Große im ganz Kleinen glauben.
Genießt, wie zwei Menschen noch einmal einen besonderen Abend erleben, obwohl sie es gar nicht mehr erwartet haben.

Schön, dass du dabei bist.
Wenn du Heute was mitgenommen hast, dann gib doch etwas zurück.

Das ist ganz einfach. Besuche https://danke.schulze-graben.de und zeig mir, ob dir die Show gefallen hat.

Kleine Gesten machen den Unterschied.

Transkript

Einen wunderschönen Weihnachtlichen oder vorweihnachtlichen Sonnabend zu dieser letzten Smötech-Show des Jahres. Wir haben darüber informiert in den Veranstaltungs-Postings. Es gibt dieses Jahr eine Weihnachtsgeschichte. Einen Adventskalender, den hat es dieses Jahr von uns nicht gegeben, denn da steckt immer wahnsinnig viel Arbeit drin. Ich hatte letztes Jahr fast drei Monate am Adventskalender gearbeitet und ich habe mir gedacht, dass es mir dieses Jahr zu wichtig war, euch mit Schulungen und Fernwartungen weiter zu mehr Selbstbestimmtheit zu bringen. Da habe ich diese Zeit lieber für euch genutzt. Was weihnachtlich ist, wollte ich euch aber trotzdem mit auf den Weg in die Festtage geben. Darum habe ich für euch eine Weihnachtsgeschichte geschrieben und sie auch selbst eingelesen. Diese Geschichte hören wir jetzt. Und was mich so freut, ist nicht nur, dass sie in unserer Stadt spielt, sondern viel wichtiger, dass es einmal nicht um das perfekte Bilderbuch Weihnachten, sondern genau um das geht, was für jeden einzelnen Weihnachten perfekt macht. Viel Spaß damit! Ganz für zwei! Der Morgen dieses 20. Dezember begann leise über Plauen. Die Stadt lag unter einer dicken Schneedecke, als hätte jemand in der Nacht ein weißes Tuch über Dächer, Gassen und Höfe gebreitet. Aus den Schornsteinen stiegen dünne Rauchfahnen, vom Wind über die Dächer gezerrt. Die Glocken der Johanniskirche waren eben verklungen, ihr Nachhall hing noch wie ein letzter Ton im frostigen Blau. In der Bleichstraße war es noch stiller als sonst. Der Schnee dämpfte jeden Schritt, jedes Rad, jedes ferne Rufen. Nur von unten aus der Werkstatt drang ab und zu ein metallisches Klirren, als ob jemand Werkzeug beiseite schob. Es roch nach Kohlenstaub, kaltem Eisen und ein bisschen nach Öl, das im Winter nie so recht warm werden wollte. Über der Werkstatt, in der niedrigen Wohnung mit den zwei Fenstern zur Straße, saß Georg Wetzel an seinem Tisch. 50 Jahre alt war er, doch seine Lunge fühlte sich an, als wäre er schon 70. Jeder Atemzug kratzte, jeder Hustenstoß fuhr ihm durch den Brustkorb wie ein Messer. Dennoch hielt er den Rücken gerade, während er sein karges Frühstück betrachtete, zwei Scheiben Schwarzbrot, etwas Schmalz, in dem die Zwiebelstückchen fast unsichtbar geworden waren und eine Tasse Milch, dünn wie Spülwasser. Er zog den Schal fester um den Hals, obwohl der Herd gleichmäßig glühte. Der Weg in den Keller steckte ihm noch in den Knochen. Acht Stufen hinab, acht Stufen hinauf mit einem Eimer Kohlen, der ihm vorkam wie ein Mühlstein. Der Husten hatte ihn auf halber Treppe erwischt, so heftig, dass er sich an das kalte Mauerwerk lehnen musste, bis die schwarzen Punkte vor seinen Augen wieder verschwanden. "Wird schon gehen, alter Kerl", murmelte er, "mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. Noch ein Weihnachten kriegen wir hin." Wir, das waren in Wahrheit nur noch er und die Erinnerung. An Marie, deren Lachen früher lauter gewesen war als jedes Hämmern in der Werkstatt, bevor eine Blutvergiftung sie vor zwei Jahren einfach weggeholt hatte. An die beiden Söhne, deren Namen er nicht mehr sagte, weil das Echo sonst zu sehr halte. Gefallen im deutsch-französischen Krieg, weit weg von Plauen, irgendwo in einer Schlacht an einem Ort, den Georg nicht aussprechen konnte, selbst wenn er gewollt hätte. Von unten klang ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem Fluch. Anton Spitzner war schon bei der Arbeit, Georgs Neffe, der die Werkstatt übernommen hatte, als Georgs Hände den Hammer nicht mehr so sicher führten wie früher. Er zahlte pünktlich, das musste man ihm lassen. Und er arbeitete fleißig, manchmal bis in die Nacht. Aber in seinen Augen, wenn er mit der Miete die Treppe heraufkam, lag immer noch etwas anderes, eine ungeduldige Erwartung, die er nie aussprach. Georg kannte diesen Blick. Es war der Blick eines Mannes, der schon sah, wie seine Frau am Fenster oben die Gardinen zurechtdrückte, während die Kinder die Treppen hochpolterten. Der Blick eines Mannes, der sich innerlich schon eingerichtet hatte, in einer Wohnung, in der er noch nicht wohnte. "Du hast es eilig, dass ich den Löffel abgebe, was, Anton?" murmelte Georg und schnitt sein Brot auseinander. Er stellte sich das Gesicht seines Neffen vor, wenn er das hören würde, die rote Scham in den Ohren, das hilflose Räuspern. "Nur Geduld, der Herrgott hat seinen eigenen Kalender." Er biss ab, kauhte langsam. Es schmeckte nach nichts. Am Fenster bildete sich ein hauchdünner Eisrand. Georg zog den Tisch näher an das Licht, schob den Teller ein wenig beiseite und griff nach der Tabakdose. Ein Pfeifchen zum Frühstück, das hatte er sich nicht nehmen lassen, auch jetzt nicht. Marie hätte geschimpft, wenn sie noch da wäre. "Dein Husten, Georg!" hätte sie gerufen, während sie das Fenster für einen Moment aufriss, damit der Rauch abzog. Ein Schatten von Lächeln legte sich auf sein Gesicht, als er daran dachte. Kaum war es da, klopfte es an der Tür. Es war ein leises Klopfen. Nicht das kräftige, etwas ungeduldige Pochen Antons, nicht das hastige Trommeln eines Botenjungen. Eher ein vorsichtiges Fragen "Darf ich?" Georg hielt inne, die Pfeife halb gestopft in der Hand. Wer um Himmels Willen klopfte an einem Montagmorgen um diese Zeit an seine Tür. Noch einmal erklang das Klopfen, etwas lauter, dringlicher, aber nicht ungeduldig. Langsam richtete er sich auf. Jeder Wirbel in seinem Rücken protestierte, als hätte er die Nacht auf blankem Holz geschlafen. Er stützte sich kurz auf dem Tisch ab, bevor er sich zur Tür schleppte. Mit jedem Schritt zählte er innerlich mit, um die keuchende Luft in seinem Brustkorb zu beruhigen. "Ja, ja, ich komm ja schon", murmelte er. "So schnell rennt dir der Tag auch nicht weg." Er legte die Hand auf die Klinke, atmete einmal tief durch, so tief, wie seine Lunge es zuließ, und öffnete. Auf der Schwelle stand eine Frau mit einem Bündel im Arm. Der Schnee klebte wie weißes Pulver an ihrem dunklen Wolltuch, das sie eng um Schultern und Kopf geschlungen hatte. Ihre Stiefel waren an den Spitzen nass, das Leder rissig, als hätten sie schon viele Winter gesehen. Unter dem Tuch heraus blickten ihnen zwei Augen an, grau wie Flusskisel mit feinen Fältchen in den Winkeln, Augen, in denen Müdigkeit lag und etwas, das Georg im ersten Moment nicht einordnen konnte. Er starrte, sie starrte zurück. Der Flur schien plötzlich enger zu werden. Ein kalter Luftzug kroch ihm den Rücken hinauf, während ihm ein Name aus den Tiefen seiner Erinnerung drang, so vertraut, dass es fast wehtat. "Betty?" Seine Stimme klang, als hätte er seit Stunden nicht gesprochen. Die Mundwinkel der Frau zuckten, langsam, zögernd, als traute sie dem Moment nicht ein scheues Lächeln. Sie hatte kein junges Gesicht mehr. Die Jahre hatten ihre Furchen ringsum gezogen, aber in der Mitte, genau dort, wo die Lippen sich öffneten und die Zähne sichtbar wurden, war es dasselbe Lächeln wie früher. "Georg", sagte sie leise, "du alter Esel!" Er hielt sich an der Tür fest, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. "Heiliger Bim Bam", flüsterte er, "das gibt's doch nicht!" Ein trockener Husten riss ihm die Worte aus dem Hals. Er krümmte sich, hustete, bis seine Augen tränten. Er hörte, wie das Bündel zu Boden glitt und zwei Hände nach seinem Arm griffen, erstaunlich fest. "Langsam, Georg", sagte sie, und in ihrer Stimme war plötzlich kein Zittern. "Au, du bist ja ganz kalt!" Er richtete sich wieder auf, wischte sich mit dem Handrücken die Augen. "Ich bin nicht kalt", knurrte er. "Ich bin überrascht", sie schnaubte leise. "Das sehe ich." Einen Augenblick lang standen sie einfach da, einander gegenüber, getrennt von einem halben Schritt und vierzig Jahren. Von draußen wehte der Schnee in die offene Tür, bildete kleine weiße Inseln auf den dunkel gewordenen Dielen. "Willst du mich nicht rein bitten?", fragte sie schließlich, und diesmal blitzte in ihren Augen etwas auf, das er gut kannte, dieses freche, unerschrockene Funkeln, mit dem sie als Mädchen auf den Baum geklettert war, den kein anderer sich getraut hatte. Georg blinzelte, riss sich zusammen. "Ja, bei allen Heiligen natürlich. Komm rein, Betty." Er trat zurück, öffnete die Tür weiter. "Und mach schnell, bevor der Schnee mir den Flur ganz unter Wasser setzt." Sie bückte sich mühsam nach ihrem Bündel, doch da war Georg schon schneller, als seine Knochen wollten, und hob es auf. Es war schwerer, als es aussah, er spürte durch den groben Stoff die harten Kanten von irgendetwas, vielleicht Töpfe, vielleicht Bücher, Dinge, die man mitnimmt, wenn man ein Leben in einen Sack stopft. "Du hättest warten können", murrte er, als er es ihr abnahm. "Ich bin noch nicht so hinfällig, dass ich eine Frau mit ihren Sachen an der Tür stehen lasse." "Das bezweifle ich keine Sekunde", erwiderte sie trocken und trat in den Flur. Die Wärme aus der Wohnung strich ihr entgegen, mild aber spürbar. "Es riecht noch wie früher", fügte sie hinzu, schnuppert. Kohle, Pfeife und ein bisschen nach Pech. "Das mit dem Pech ist neu", sagte Georg, "das bringst du mit." Sie lachte. Es war ein leises Lachen, nicht mehr so laut und frei wie das Mädchenlachen, das ihm in Erinnerung geblieben war. Aber es hatte denselben Tonfall, denselben Schwung, derselben kleinen Stolperer am Ende. "Setz dich", sagte er, als sie in die Küche traten. "Auf den Stuhl? Der wackelt nicht. Der andere ist gefährlich, wenn man Wert auf seine Hüfte legt." Sie legte das Bündel neben den Ofen, nahm das Tuch ab und setzte sich. Ihre Hände waren rau, der Rücken der Finger von feinen Rissen gezeichnet. Das Haar unter dem Tuch war grau, zu einem Knoten aufgesteckt, aus dem sich Strähnen gelöst hatten. Georg konnte den Blick nicht abwenden. Es war, als sehe er zugleich die Frau vor sich und das Mädchen von früher, das mit nackten Füßen durchs Wasser gerannt war. "Also", sagte er schließlich, setzte sich ihr gegenüber und zündete mit zittrigen Fingern seine Pfeife an. "Fangen wir vorne an. Was zum Teufel machst du hier, Betty?" "Ich dachte, du bist längst irgendwo in der Fremde, glücklich verheiratet und Mutter von einer ganzen Kinderschar." Das Lächeln wich aus ihrem Gesicht, langsam, als würde jemand eine Lampe herunterdimmen. Sie faltete die Hände im Schoß, blickte kurz auf die rissigen Knöchel, dann wieder zu ihm. "Ich war verheiratet", sagte sie, "fast dreißig Jahre, in Kürbitz." Georg zuckte zusammen. Kürbitz war nicht die Fremde. Kürbitz war ein paar Stunden zu Fuß von hier, wenn man gut bei Kräften war. Er überlegte fieberhaft. Hatte er nicht irgendwann gehört? Ein Schmied, hieß es, ein kräftiger Kerl. Guter Verdienst. "Der Schmied", sagte Georg vorsichtig. "Wie ... tot", unterbrach Betty ihn. Ihre Stimme war knapp. "Seit drei Monaten. Der Herr hat ihn zu sich genommen. Vielleicht, weil er es nicht mehr ertragen hat, ihm beim Saufen zuzusehen." Georg schwieg. Im Ofen knackte ein Holzscheit. "Früher war er anders", fuhr sie fort, und nun klang in ihrer Stimme etwas zwischen Trotz und Müdigkeit. "Er hat gearbeitet wie ein Tier. Und gelacht hat er auch. Viel. Wir hatten nicht viel, aber wir hatten genug. Die Kinder sind groß geworden, sind weg. Die Werkstatt lief erst gut, dann weniger. Irgendwann ..." Sie machte eine kurze Handbewegung, als wollte sie Rauch wegwischen. "Irgendwann hat er mehr mit der Flasche geredet als mit mir." Georg fühlte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog, das nichts mit seiner Lunge zu tun hatte. "Hat er dir weh getan?", fragte er leise. Sie schüttelte den Kopf, "nur mit Worten. Aber die treffen manchmal besser als die Fäuste, nicht? Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen, humorlosen Lächeln. Er hat Schulden gemacht, mehr als ich ahnte. Als er dann starb, standen die Leute schneller bei mir vor der Tür, als der Pfarrer das letzte Amen gesprochen hatte. Sie atmete tief durch. "Gestern, Georg. Gestern haben sie mir das Haus genommen. Alles, was wir hatten. Ich durfte meine Sachen packen, was in einen Bündel passte, und dann bin ich gegangen, wollte mir noch einen Tag Bedenkzeit erbitten, aber der Herr Gerichtsvollzieher hat gesagt, die Zeit sei um." "Und dann bist du losgelaufen?", fragte Georg, "im Schnee." "Was denn sonst?" Betty zuckte die Schultern und dabei knackte es in einem Gelenk. "Ich habe überlegt. Meine Kinder…" Sie stockte. "Sie haben ihr eigenes Leben weit weg und ich… ich wollte nicht irgendwo als Last im Eck sitzen, also bin ich dorthin gegangen, wo ich als Mädchen hingehört habe." Sie sah ihn an, direkt ohne auszuweichen. "Zu dir." Georg wusste nicht, ob seine Hände wegen der Kälte oder wegen ihrer Worte zitterten. Er drehte die Pfeife in den Fingern, bis er merkte, dass der Tabak auf den Boden rieselte. "Du hättest schreiben können", murmelte er. "Ich… ich hätte dich geholt." "Mit welchem Pferd?", fragte sie trocken. "Du hättest dich totgehustet unterwegs. Außerdem…" Sie senkte den Blick und zum ersten Mal sah sie verlegen aus. Man schreibt nicht nach 40 Jahren an einen Mann und sagt "Ich hab nichts mehr. Darf ich bei dir wohnen?" Das macht man persönlich. Er lachte auf, kurz und krechzend. "Ja, das klingt nach der Betty, die ich kenne." Einen Moment lang sah er sie einfach an. Ihre Schultern waren schmaler geworden, aber da war eine Geradlinigkeit in ihrer Haltung, die ihm vertraut war, jemand, der viel einsteckt und trotzdem gerade herausbleibt. "Du kannst bleiben", sagte er dann ohne Umschweife. "Solange du willst." Sie blinzelte. "Georg, kein Wort", unterbrach er sie. "Ich hab Platz, ich hab sogar zu viel Platz, seit Marie…" Er brach ab, schluckte. "Seit ich alleine bin. Das Bett ist groß genug für zwei, wenn man sich verträgt und wir haben uns früher recht gut verstanden, wenn ich mich recht erinnere." Ein schwaches Funkeln huschte über ihr Gesicht und wenn wir mal gestritten haben, dann ließ die Versöhnung nie lange auf sich warten. "Ja, und wer hatte meistens recht?", fragte er. "Ich", sagte sie sofort. Sie sahen sich an und mussten beide lachen. Diesmal war das Lachen länger, echter. Etwas in der Luft, das den Geruch von Kohlenstaub und altem Holz überdeckte, wurde leichter. Die nächsten Tage begannen sich in etwas zu verwandeln, von dem keiner der beiden geahnt hatte, dass es ihnen fehlte. Betty machte sich in der Wohnung zu schaffen, als hätte sie nie etwas anderes getan. Sie putzte die Fenster, bis das Winterlicht klarer hereinfiel. Sie schrubbte den Tisch, sodass die Rillen im Holz wieder sichtbar wurden. Sie nähte ein Loch in Georgs Schal, ohne ihn vorher zu fragen, und als er brummend protestierte, dass er sich so an das Loch gewöhnt hätte, warf sie ihm nur einen Blick zu, der sagte, heb dir deine Sprüche auf, alter Mann. Morgens hörte man von unten Antons Schläge, der Hammer auf Metall, das Sägen, das gelegentliche Schimpfen über ein missratenes Werkstück. Oben mischten sich neue Geräusche dazu, das Plätschern von Wasser im Zuber, das leise Klappern von Geschirr, Bettys summende Stimme, wenn sie beim Arbeiten ein altes Lied aus Kindertagen vor sich hinmurmelte. Abends saßen sie am Tisch, der nun eine Decke aus grobem Leinen trug, die Betty aus dem Bündel gezogen hatte. Georg erzählte von Marie mit einer Vorsicht, die er bei anderen nie aufgebracht hätte. Wie sie in die Werkstatt gekommen war, mit einem Korb voller Wäsche als Aussteuer und wie sie ihm einen Blick zugeworfen hatte, der sagte, du wirst mich heiraten, ob du's willst oder nicht, denn unsere Väter haben es so beschlossen. Wie sie die Söhne zur Welt gebracht hatte, beide mit denselben Augen wie er, denselben breiten Händen. Und dann waren sie weg, sagte er einmal leise. Erst der eine, dann der andere, als ob der Krieg die Jungen sammelt, wie andere Leute marken. Betty legte ihm eine Hand auf den Unterarm, fest, ohne Worte. Ein Druck, der sagte, ich verstehe, ohne dass sie erklären musste. Sie erzählte von Kürbitz, von der Schmiede, die anfangs so voll gewesen war, dass der Boden vibrierte, wenn der Hammer auf das glühende Eisen niederfuhr. Von ihren Kindern, die barfuß durch den Hof rannten, mit rußigen Gesichtern und lautem Lachen. Und von der Lehre, die einzog, als sie der Reihe nach aus dem Haus gingen, mit Bündeln, die denen glichen, die jetzt neben Georgs Ofen lagen. Er war nicht nur schlecht, sagte sie über ihren Mann, während sie langsam mit dem Finger den Rand ihrer Tasse entlangfuhr. Es gab gute Jahre. Aber irgendwann hat er aufgehört, in die Zukunft zu sehen. Er hat nur noch auf den Boden gestarrt, immer dahin, wo der nächste Tropfen aus der Flasche hinfällt. Du hast ausgehalten, sagte Georg. Sie zuckte mit den Schultern. Was hätte ich tun sollen? Eine Frau geht nicht einfach weg. Wohin denn? Auf die Straße? Zum nächsten Mann? Ich bin keine, die sich durchfüttern lässt. Ich weiß, sagte Georg ernst. Darum bist du ja hier. Es war am zweiten Abend, als sie vor dem Ofen saßen, die Beine ausgestreckt, beide mit einer Decke über den Knien, als Georg plötzlich sagte "Weißt du, worauf ich Appetit hätte? Richtig, richtigen Appetit?" Sie sah ihn misstrauisch an. "Wenn du jetzt sagst 'Auf eine Pfeife', dann zieh ich dir die Decke weg." "Eine Pfeife hab ich", erwiderte er und hielt die Seine hoch. "Ich meine etwas anderes. Etwas..." Er suchte nach dem Wort. "Etwas, das nach Weihnachten schmeckt." Sie schwieg. Draußen hörte man entfernt das Knirschen einer Kutsche im Schnee. "Eine Gans", sagte er schließlich. "Eine richtige Gans, mit Klößen und Rotkraut, so, dass das Fett bis zum Ellenbogen läuft, so, wie meine Mutter sie gemacht hat, und später Marie." Betty lachte auf. Es klang erst amüsiert, dann sehnsüchtig. "Ach, Georg", sagte sie, "mit meinem Mann." Sie hielt inne, atmete durch. "Wir hatten selten Gans, meistens Hering, oder gar nichts Besonderes. Das Geld ging in die Flasche und in die Schulden. Die Kinder haben einmal gefragt, wie Gans schmeckt. Weißt du, was er gesagt hat?" "Na, nach Dingen, die ihr nie im Haus haben werdet." Ihre Stimme bekam einen bitteren Ton. Ich hab ihn dafür gehasst, diese Bemerkung. Georg sah in die Flammen. Das Fett einer imaginären Gans schien ihm schon auf der Zunge zu liegen, zusammen mit den Gerüchen längst vergangener Feste. Kerzenlicht, Kinderlachen, Maries Hände, die den Braten aus dem Ofen zogen. "Ich", begann er und stockte, "ich würde dir gern zeigen, wie Gans schmeckt. Richtig, wenigstens einmal." "Und vom Geld, das du unter der Matratze versteckst, kaufst du sie?" fragte Betty spöttisch. "Ich weiß, wie teuer Gänse sind. Außer du willst das Vieh selber fangen in der Nacht auf dem Anger." "Ich hab gespart", sagte er trotzig. "Für schlechte Zeiten. Aber besser als mit dir wird's nimmer." Er sah sie an, fast herausfordernd. "Willst du mir das Weihnachtswunder verbieten, Betty?" Sie hielt seinem Blick stand. In ihren Augen lag etwas, das zwischen Sorge und Humor hin und her pendelte. "Du kannst dir einen Hustenanfall leisten", sagte sie schließlich. "Aber keine Gans, die dich in den Ruin treibt." "Ich bin ein alter Mann", entgegnete er trocken. "Von was soll ich denn ruiniert werden? Vom Sterben? Das hab ich sowieso vor mir." "Georg", sie klang erschrocken, erhob abwährend die Hände. Einen Moment lang war es still zwischen ihnen. Dann fügte er leiser hinzu. "Ich meine es ernst, Betty. Ich möchte…" Er suchte nach einem Wort, das groß genug war. "Einmal noch etwas Richtiges auf dem Tisch haben. Etwas, das nach Fest schmeckt, nach Leben." Sie sah ihn lange an, so lange, dass die Flammen im Ofen zweimal kleiner und wieder größer wurden. Dann nickte sie, kaum merklich. "Wenn du die Gans anschleppst", sagte sie, "mach ich sie dir, so dass du dich in den Teller legen willst." Er grinst und für einen Moment schimmerte unter den Falten der Junge durch, der mit ihr am Fluss um die Wette gerannt war. Abgemacht. In der Nacht lag Georg lange wach. Bettys Atem ging ruhig von der anderen Bettseite herüber. Sie hatten das alte Ehebett geteilt, als sei es das Natürlichste der Welt. Ein Kissen mehr, eine Decke geteilt, ein Stück Wärme, das beide längst vergessen hatten. Er starrte in die Dunkelheit. Die Kälte kroch durch die Ritzen im Fensterrahmen und sein Husten lauerte irgendwo in der Tiefe der Brust. Aber in seinem Kopf war alles voller Bilder. Betty, wie sie mit hochgekrempelten Ärmeln in der Küche stand, der Geruch von Gänsebraten, Maries Gesicht, das irgendwo dazwischen auftauchte, nicht eifersüchtig, eher sanft. Und darunter, leise, aber beharrlich, ein anderer Gedanke. Was wird aus Betty, wenn ich gehe? Er sah Antons Gesicht vor sich, diesen ungeduldigen Blick, das Rechnen in seinen Augen, wenn er die Münzen zählte, die er auf den Tisch legte. Er war kein schlechter Mensch, der Anton. Aber ein Mann mit Plänen. Plänen, in denen eine fremde Frau, die plötzlich oben in der Wohnung saß, keinen Platz hatte. "Ich lasse dich hier nicht einfach sitzen, Betty", murmelte Georg in die Dunkelheit. "Nicht so." Am nächsten Morgen, noch bevor Betty den Kaffee aufsetzen konnte, zog Georg sich an. Er tat es leise, so leise, wie es einem Mann in seinem Zustand eben möglich war. Die Stiefel waren kalt, als er hineinschlüpfte. Er musste zweimal an den Schnürsenkeln zerren, bis sie richtig saßen. "Wohin willst du?", kam Bettys verschlafene Stimme vom Bett. "Nur", begann er, und dachte fieberhaft nach, "nur ein bisschen Luft schnappen. Ich kann nicht den ganzen Tag hier hocken wie ein alter Esel." "Im Schnee?", fragte sie misstrauisch. "Die Luft ist sauberer, wenn sie weiß ist", sagte er. Es war ein dummer Satz, aber ihr Kopf verschwand wieder im Kissen. "Komm nicht auf die Idee, allein in den Keller zu gehen", fügte er hinzu. "Die Stufen sind heimtückisch." "Ja, ja", murmelte sie. "Komm nur rechtzeitig zurück, bevor der Kaffee fertig ist." Er lächelte, obwohl sie es nicht sehen konnte, zog den Mantel dicht um sich und machte sich auf den Weg. Jede Treppenstufe knarte, und er stellte sich vor, wie Betty im Bett die Augenbrauen hob und doch liegen blieb. Draußen schoss ihm die Kälte sofort in die Lunge. Er hustete, aber zwang sich, weiterzugehen. Die Bleichstraße war noch nicht freigeschaufelt. Seine Stiefel hinterließen tiefe Spuren im Schnee, die sich mit anderen mischten, die Händler und frühe Arbeiter hinterlassen hatten. Er nahm den Weg Richtung Altmarkt in kurzen, konzentrierten Schritten, als wäre jede Kreuzung ein eigener Gipfel. Der Notar, den er suchte, hatte sein Büro in einem Hinterhof nahe beim Rathaus. Ein Messingschild an der Tür verkündete in geschwungenen Buchstaben "Notariat, Ditmar und Sohn". Georg betrachtete es einen Moment, als müsste er erst mal verhandeln, ob er eintreten durfte, dann drückte er die Klinke hinunter. Drinnen roch es nach Papier, Tinte und einem Hauch Zigarre. Ein junger Mann mit sorgfältig gescheiteltem Haar blickte von einem Stapel Akten auf. "Ja bitte?", fragte er. "Ich will ein Testament machen", sagte Georg ohne Umschweife. "Oder besser, ein neues. Das alte taugt nicht mehr." Ein paar Minuten später saß er in einem Raum mit hohen Regalen, deren Fächer vollgestopft waren mit Akten. Hinter dem Schreibtisch saß Herr Ditmar selbst, der Ältere, mit einer Brille auf der Nase. "Also, Herr Wetzel", sagte er, nachdem Georg seinen Namen genannt hatte. "Wir hatten schon vor einigen Jahren miteinander zu tun, nicht wahr? Als Ihre Frau ..." Eräusperte sich mein Beileid noch einmal nachträglich. Georg nickte knapp. "Ist eine Weile her." "In der alten Verfügung", fuhr der Notar fort, während er in einer Mappe blätterte, "ist Ihr Neffe Anton Spitzner als Erbe von Haus und Werkstatt eingesetzt. Sie wollten, dass die Werkstatt in der Familie bleibt." Sehr vernünftig. "Die Werkstatt bleibt auch in der Familie", sagte Georg. "Der Anton kann weiter unten hämmern, bis ihm die Arme abfallen. Ich will nur sicherstellen, dass ein Mensch, der alles verloren hat, nicht plötzlich wieder mittellos auf der Straße sitzt." Der Notar hob eine Augenbraue. "Sie wollen den Erben wechseln?" "Richtig", erwiderte Georg. "Die Werkstatt soll der Anton weiter mieten, wenn ich einmal nicht mehr bin. Offiziell, meine ich. Er ist ja praktisch jetzt schon sein eigener Meister da unten." Er zögerte einen Moment. Dann fuhr er fort. Aber die Wohnung, das Eigentum am Haus an sich, das Soll-an-erstockte, merkte erst jetzt, dass ihm die genaue Formulierung fehlte. "An eine Freundin gehen." "Eine Freundin", wiederholte der Notar, nicht ohne ein winziges Zucken im Mundwinkel. "Name?" "Elisabeth", begann Georg, hielt inne und sah das Mädchen vor sich, das an der Elster mit hochgekrempeltem Rock im Wasser stand. "Elisabeth?" "Damals war sie eine Schubert, jetzt heißt sie ..." Er machte eine ungeduldige Handbewegung. "Sie ist die Witwe des Schmieds von Kürbitz, geborene Schubert. Den Nachnamen finden Sie auch selbst heraus." Der Notar runzelte die Stirn. "Sie wissen den aktuellen Namen der Erbin nicht?" "Brauchen wir den für die Papiere heute?", fragte Georg scharf. "Ich weiß, wen ich bedenke. Und der Herrgott weiß es auch." Sie arrangierten schließlich, dass das Haus und das Recht, darin lebenslang zu wohnen, auf Betty übergehen sollten, sobald Georg nicht mehr war. Die Werkstatt sollte Anton weiter überlassen werden, mitsamt einer klaren Formulierung, dass er als Mieter bleiben durfte, solange er zahlte. "Sie sind sicher?" fragte der Notar, als er Georg die Feder zur Unterschrift reichte. "Das ist eine weitreichende Entscheidung." Georg nahm die Feder, die in seiner Hand schwerer wirkte, als sie war. "Ich bin alt, Herr Dittmar", sagte er ruhig. "Die weitreichendste Entscheidung, die ich vor mir habe, treffe ich nicht. Die trifft jemand anders da oben", er deutete mit dem Kinn zur Decke. "Aber dieses hier, das ist meine." Die Feder kratzte über das Papier. Georg unterschrieb mit einer Schrift, die zittriger war als früher, aber noch immer fest genug. Der Notar sandte einen Boten zum Amtsgericht und eine Stunde später hielt Georg die beglaubigte Abschrift seines letzten Willens in der Hand, ein dicker Umschlag, schwer von Worten, die über Leben nach dem Leben entschieden. Mit dem Umschlag unter dem Arm machte er sich auf den Weg zum Markt, der Weg dorthin kam ihm länger vor als früher. Sein Atem ging stoßweise, der Husten lauerte wie ein Hund im Hinterhof. Aber als er die Reihe der Stände erreichte, an denen Gemüse, Fleisch, Stoffe und kleine Holzspielzeuge angeboten wurden, war in seinem Blick ein Funken, der jeden Handschlag entschiedener machte. Die Gänsefrau, die er suchte, stand wie immer an der Ecke, nahe dem Brunnen, vor ihr lagen Gänse, gerupft, die Haut hell und gespannt, das Fett schimmernd darunter. Der Duft von rohem Fleisch und kalter Luft mischte sich mit dem rauen Ton ihrer Stimme, mit der sie kunthart, dass ihre Ware jeden Pfennig wert sei. "Na, Meister Wetzel", rief sie, als sie ihn erkannte, "was kann ich Ihnen Gutes tun, ein Hühnchen oder ein paar Knochen für eine Brühe?" "Eine Gans", sagte Georg, "die größte, die Sie haben", sie sah ihn prüfend an, "da hat aber jemand große Pläne." "Es ist Weihnachten", entgegnete Georg und stand ein wenig gerader, "und ich hab Besuch, der mehr verdient als Hering. Was kostet die da?" Er deutete auf eine Gans, deren Brust so rund war, als hätte sie einen Ball verschluckt. Sie nannte einen Preis, der ihm kurz den Atem raubte. Er zog die Börse aus der Tasche, zählte die Münzen. Ein Teil der Ersparnisse, die er über Jahre zurückgelegt hatte, wanderte in ihre Hände. Als er bezahlte, spürte er keinen Schmerz, nur eine überraschende Klarheit. Geld, das in der Truhe lag, wärmte niemanden. Eine Gans, die im Ofen schmorte, schon. Als er zurück zur Bleichstraße ging, trug er die Gans in einem Leinentuch eingewickelt, den Umschlag mit dem Testament unter der Jacke dicht am Herzen. Der Schnee knirschte lauter unter seinen Schritten, der Wind bis ihm ins Gesicht. Zweimal musste er stehen bleiben, sich an einem Zaun festhalten, weil der Husten ihn schüttelte. Aber er riss sich zusammen, noch ein paar Ecken, ein paar Stufen. Während Georg draußen mit Kälte und Atem rang, war Betty in der Wohnung auf den Beinen. Als sie bemerkt hatte, dass sein Platz neben ihr im Bett leer war und seine Stiefel verschwunden, war ihr Herz kurz stehen geblieben. Dann hatte sie sich gezwungen, ruhig zu atmen. "Er ist kein Kind", sagte sie sich selbst laut. "Er weiß, was er tut, und wenn nicht, dann weiß ich's." Sie machte Feuer im Ofen, schob ein paar Kohlen nach, bis die Glut aufklomm. Sie räumte den Tisch ab, wischte ihn noch einmal mit einem feuchten Lappen. Sie nahm ein Stück altes Tuch, schnitt es in Streifen und knotete daraus Schleifen, die sie an den Fenstern befestigte. Kein Schmuck, wie ihn reiche Leute hatten. Aber etwas, das sagte "Hier drin wohnt jemand, dem der heutige Tag etwas bedeutet." Beim Aufräumen fand sie eine kleine Holzkiste, halb unter dem Bett versteckt. Zögernd öffnete sie sie. Drinnen lagen ein paar vergilbte Papiere, eine eingedelte Taschenuhr und zwei kleine, sorgfältig aufbewahrte Bilder. Eines zeigte eine Frau mit streng zurückgebundenem Haar, in deren Augen ein warmes Lächeln lag, das andere zwei Jungen in zu großen Westen, geschniegelt, als wären sie für die Ewigkeit zurechtgemacht worden. "Marie", flüsterte Betty und strich mit der Fingerspitze über das Bild der Frau. Sie kannte sie nur von Erzählungen, aber sie war ihr nicht fremd. Jemand, der an derselben Stelle neben Georg gesessen hatte, an der sie nun stand. Eine Verbündete, wenn man so wollte, über den Graben der Zeit hinweg. "Ich passe auf ihn auf", sagte sie leise in die Stille. "Solange ich kann. Und wenn er etwas Dummes vorhat, versuche ich es zu verhindern, versprochen." Dann legte sie die Bilder behutsam zurück, schloss die Kiste und stellte sie wieder an ihren Platz. Es war schon Nachmittag, als sie Schritte im Treppenhaus hörte. Schwere Schritte, schleppend, mit einer kurzen Pause auf halber Höhe, gefolgt von einem Husten, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie eilte zur Tür, riss sie auf, bevor er klopfen konnte. Da stand er. Die Mütze schief, der Mantel mit Schnee bestäubt und in den Händen trug er ein Leinentuch, aus dem vertraut der Schwanz einer Gans hervorlugte. "Bist du komplett verrückt geworden?", fragte sie, noch bevor er den Mund aufmachen konnte. "Nach der Meinung mancher Leute schon", keuchte er und trat ein. "Hilfst du mir, bevor mir die Arme abfallen? Das Vieh ist schwerer, als es aussieht." Sie nahmen ihm die Gans ab und ihre Hände merkten sofort. Er hatte nicht gespart. Das war ein Tier mit Fleisch auf den Knochen, mit einer dicken Fettschicht, die im Ofen singen würde. "Ich hab doch gesagt", begann sie, aber er schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab. "Du hast gesagt, wenn ich die Gans bringe, machst du sie mir", erinnerte er sie. "Und ich bin ein Mann, der sein Wort hält." "Und ich bin eine Frau, die alten Sturköpfen am liebsten eine Ohrfeige gibt, wenn sie sich übernehmen", schoss sie zurück. Doch ihre Finger strichen bereits prüfend über die Haut der Gans, drückten hier, tasteten dort. "Die ist gut. Hast du beim alten Krause gekauft?" "Bei der Gänsefrau am Markt", antwortete er. "Und bevor du fragst, ja, sie war teuer. Und nein, das ist mir egal." Dann zog er den Umschlag aus seiner Jacke. Der Rand war durch die Körperwärme leicht weich geworden. "Und was ist das?", fragte Betty misstrauisch. "Hast du dir unterwegs eine Sammlung Weihnachtsgedichte gekauft?" "So ähnlich", sagte er. "Das ist etwas, das wir nach dem Essen besprechen." Er legte den Umschlag auf das Regal neben der Tür, darüber, wo die Kiste mit Maries Erinnerungen stand. "Jetzt wird gekocht. Sonst ist Heiligabend vorbei, bevor die Gans knusprig ist." Betty schnaubte, doch ein leiser Glanz lag in ihren Augen. "Dann hilf mir, alter Mann. Du wirst wenigstens Kartoffeln schälen können, ohne dir die Finger abzuhacken." "Die Herausforderung nehme ich an", sagte er. Der Heiligabend kam in die kleine Wohnung in der Bleichstraße nicht mit Posaunen und Glocken, sondern mit dem leisen Zischen von Fett, das in der Pfanne aufsprang. Betty spülte die Gans innen und außen, salzte sie, rieb sie mit Majoran ein, stopfte Äpfel und Zwiebeln in den Bauch. Das Fleisch glänzte unter ihren Händen und Georg stand daneben, schälte Kartoffeln, als würde das Schicksal von ihrer Gleichmäßigkeit abhängen. Der Ofen wurde zum Herzstück der Welt, die jetzt so klein geworden war. Langsam füllte der Duft von röstendem Fett, von knuspriger Haut und karamellisierenden Zwiebeln die Küche. Betty stellte einen Topf mit Rotkraut auf die Platte, gab Apfelstücke dazu, ein wenig Zucker, einen Schluck Essig. Der süß-säuerliche Geruch mischte sich mit dem Bratenduft und legte sich wie eine warme Decke über alles. Georg rührte im Topf mit den Kartoffeln, die zu Klößen werden sollten, und sog tief die Luft ein. "Wenn das der Himmel ist", murmelte er, "dann beschwere ich mich nicht." "Beschwer dich ruhig", sagte Betty, "aber mit vollem Mund." Sie deckten den Tisch, als wäre es ein Ballsaal und nicht eine bescheidene Küche über einer Werkstatt. Betty legte die beste Decke auf, die sie im Bündel gefunden hatte, eine, die nur wenige Löcher hatte. Sie stellte die zwei besten Teller hin, die sie auftreiben konnten, und die Gläser, die nicht angeschlagen waren. In die Mitte schob sie eine Kerze in einem alten Messinghalter, den Georg irgendwann einmal als Bezahlung für eine Arbeit angenommen hatte. Draußen fielen weiter leise die Flocken. Von der Straße her hörte man gedämpfte Stimmen, Kinderlachen, später die Glocken der Kirche, die zur Christmette riefen. "Früher", sagte Georg, als sie sich setzten, "hätte Marie jetzt darauf bestanden, dass wir in die Kirche gehen." "Früher", sagte Betty, "war deine Lunge auch noch nicht so löchrig wie mein altes Hemd." "Ich bin froh, dass du nicht mit mir schimpfst, weil ich nicht in der Bank sitze", murmelte er. Sie sah ihn an und in ihrem Blick lag Wärme. "Ich hab meine Gespräche mit dem da oben schon geführt", sagte sie leise. "Heute rede ich mit dir." Die Gans, die war ein kleines Wunderwerk geworden. Die Haut knackte unter Bettys Messer, das Fett lief goldgelb in die Rinne der Form. Der Duft war so intensiv, dass Georg einen Moment die Augen schließen musste, weil ihm schwindelig wurde. "Wenn das ein Traum ist", sagte er rau, "weck mich erst, wenn der Teller leer ist." Sie lachten und dann aßen sie. Die Gabeln klirrten, die Teller füllten und leerten sich. Georg schmeckte jede Faser Fleisch, als wäre sie ein Versprechen. Das Rotkraut war weich, die Klöße saugten die Soße auf wie ein Schwamm. Einmal hielt er kurz mit der Gabel auf dem Weg zum Mund inne. "Was ist?", fragte Betty. Er schaute zu ihr. "Ich hätte das fast vergessen", sagte er, "wie sich das anfühlt. Nicht nur das Essen, das ... Zusammensein." "Ich auch", gab sie zu. "In den letzten Jahren war jeder Bissen eine Rechnung, wie viel er kostet, wen ich damit vielleicht verärgere. Heute ..." Sie zuckte mit den Schultern. "Heute ist es einfach ... gut." Sie aßen langsam, als könnten sie damit die Zeit dehnen. Zwischen ihnen spannte sich etwas Unsichtbares, eine Art stiller Vertrag. Diesen Moment nimmt uns niemand mehr weg. Als die Teller schließlich leer waren, die Kerze zur Hälfte heruntergebrannt und der Ofen nur noch leicht glühte, lehnte Georg sich zurück. Sein Bauch war angenehm voll, sein Kopf leicht. Die Müdigkeit, die in seinen Gliedern saß, war eine andere als sonst. Weniger schmerzhaft, mehr wie ein sanftes Ziehen, das sagte, "Du hast etwas erlebt." "Es gibt noch etwas", sagte er, und seine Stimme klang plötzlich ernster. "Etwas, das ich dir geben muss." Er lächelte schwach, stand auf, langsamer als früher, aber ohne zu stöhnen, und ging zum Regal. Der Umschlag lag noch da, dicker als alles, was sonst in seinem Haus an Papier existierte. Er nahm ihn, drehte ihn kurz in den Händen, als würde er sein Gewicht prüfen, und setzte sich dann wieder an den Tisch, direkt ihr gegenüber. "Was ist das?", fragte sie. "Meine Art, Danke zu sagen", erwiderte er, "und vielleicht Abschied", sie erstarrte. "Georg fang nicht wieder damit an", sagte sie scharf. "Du bist heute die Treppen hoch und runter, warst sogar draußen, du bist nicht tot." "Nein", sagte er ruhig. "Aber ich bin auch nicht unsterblich, und ich wäre ein Narr, wenn ich so tun würde, als hätte ich noch Jahrzehnte vor mir." Er schob ihr den Umschlag zu. "Mach auf", sie zögerte. Ihre Finger lagen auf der Kante, als fürchteten sie, das Papier könne bei Berührung zerfallen. Schließlich öffnete sie ihn doch, vorsichtig, aber entschlossen. Sie nahm die beschriebenen Blätter heraus, überflog die erste Seite, und ihre Augen weiteten sich. "Das ist ein Testament", flüsterte sie, "dein Testament." "Ja", sagte er, "ein neues." Sie blätterte, suchte nach den entscheidenden Sätzen. Ihre Lippen bewegten sich lautlos mit, während sie las. Plötzlich stockte sie, ihre Hand begann leicht zu zittern. Das Eigentum am gesamten Haus und Grund der Schlosserei an der Bleichstraße, sie schluckte. So wie das Eigentum an der Werkstatt mit allem darin und darum, ihre Stimme brach. "Vermache ich, Elisabeth", geborene Schubert, "gegenwärtig wohnhaft eben da." Sie sah zu ihm auf, als hätte er ihr gesagt, er wolle den Mond vom Himmel holen und in ihre Schürzentasche stecken. "Georg", sagte sie heiser, "das kannst du nicht machen." "Ich hab's schon gemacht", entgegnete er ruhig, "mit Notar und Stempel und allem Pipapo." "Aber das ist dein Haus", rief sie, "dein Leben, deine ..." "Mein Leben", fiel er ihr ins Wort, "passt inzwischen in eine kleine Kiste unter dem Bett und in ein paar Erinnerungen in meinem Kopf. Das Haus ..." Er ließ den Blick durch die Küche schweifen. "Das braucht jemand, der noch ein paar Jahre drin leben kann, ohne dabei jedes Mal mit dem Schöpfer zu verhandeln." "Aber dein Neffe", begann sie, "kriegt die Werkstatt zur Miete", sagte er knapp. "Genau wie jetzt auch, und mit der Miete hast du ein kleines Einkommen. Ein Mann braucht Arbeit und Anton hat goldene Hände. Er wird seine Familie ernähren können, aber er braucht keine zwei Etagen, um glücklich zu sein. Und du ..." Er räusperte sich. "Du brauchst ein Dach, eines, unter dem dich keiner fortschickt, weil die Schulden zu hoch sind." Betty schüttelte den Kopf, Tränen traten ihr in die Augen, aber nicht die stille Sorte, es waren die wütenden, die man am liebsten mit den Fäusten wegschlagen würde. "Ich bin nicht zu dir gekommen, um etwas zu erben", stieß sie hervor. "Ich wollte nicht ..." "Ich weiß", unterbrach er sie. "Genau deshalb kann ich es tun. Du hast nichts gefordert. Du hast nur geklopft." Sie presste die Lippen aufeinander. "Ich will nicht, dass die Leute sagen, ich hätte ..." "Sollen sie reden?", sagte er scharf. "Die Leute reden immer. Früher haben sie gesagt, du wärst nicht gut genug für mich, weil dein Vater ein Tagelöhner war, während meiner eine Werkstatt hatte. Weißt du noch?" Sie nickte langsam. "Das vergesse ich nie." "Siehst du", fuhr er fort, "und trotzdem sitzt du heute hier. Und ich sitze hier." "Wir haben beide überlebt, trotz ihrer Meinungen. Also sollen sie auch über dieses Testament reden, wenn sie wollen. Es ändert nichts daran, dass ich weiß, was ich tue." Betty sah wieder auf die Blätter in ihrer Hand, als wäre dort ein fremdes Leben beschrieben. "Du traust mir das Haus zu", murmelte sie, "mit allem, was dranhängt." "Ich traue dir zu, dass du hier sitzt", sagte Georg leise, "dass du den Ofen anmachst, dass du vielleicht mal eine Gardine nähst, wenn eine reißt, dass du hinunterrufst, wenn Anton vergisst, das Licht auszumachen, mehr braucht dieses Haus nicht." Sie schloss die Augen, atmete tief durch. Eine Träne löste sich, ran über ihre eingefallene Wange, blieb am Kinn hängen. Sie wischte sie nicht weg. "Und was ist mit dir?", fragte sie dann, kaum hörbar. "Wo bist du in diesem Papier, Georg?" Er lächelte müde. "Ich bin da, wo ich hingehöre, auf den Seiten davor, im Gedächtnis von ein paar Leuten und –" er deutete auf seine Brust – "eine Zeit lang noch hier drin, bei dir." Sie schüttelte den Kopf. "Ich will dich nicht verlieren", sagte sie. "Nicht auch noch dich. Du verlierst mich nicht", sagte er sanft. "Du bekommst etwas von mir, mehr als eine Gans auf dem Tisch. Du bekommst die Sicherheit, dass du morgen noch hier aufwachst und übermorgen, egal, ob ich neben dir liege oder nicht." Die Stille, die sich über sie legte, war schwer und zart zugleich. Betty legte das Testament behutsam auf den Tisch, als wäre es aus Glas. Dann stand sie auf, ging um den Tisch herum und blieb neben ihm stehen. "Du bist ein sturer, dummer, großherziger Alternat", sagte sie, "und ich weiß nicht, womit ich dich verdient habe." Er sah zu ihr hoch. "Mit vierzig Jahren leben, Betty", antwortete er, "mit einem Weg im Schnee, mit der Tatsache, dass du heute hier sitzt und nicht irgendwo im Winkel einer fremden Stube." Sie legte ihm eine Hand in den Nacken, zog sein Gesicht zu sich herab und küßte ihn auf die Stirn. Es war ein kurzer, fester Kuss, ohne Romantik, aber voll von etwas anderem, das man schwer benennen konnte. "Dann ist es eben so", sagte sie, "ich werde dieses Haus hüten", Georg lachte. Der Husten, der danach kam, war heftig, aber er ließ ihn gewähren, als wäre er ein alter Bekannter. "Abgemacht", brachte er hervor. Später, als die Kerze heruntergebrannt war und die Asche im Ofen nur noch glühte, legten sie sich schlafen. Der Wind strich durch die Ritzen und irgendwo in der Ferne sang noch eine betrunkene Stimme ein Weihnachtslied, dessen Text so gar nicht festlich klang. Betty lauschte Georgs Atem. Er war unregelmäßig, mit kleinen Pausen dazwischen. Jedes Mal, wenn eine solche Pause länger wurde, hielt sie unwillkürlich selbst die Luft an. Dann ging es weiter. Ein rasselnder Zug, ein leises Ausatmen. "Wir haben heute eine Gans gegessen", flüsterte sie in die Dunkelheit. "Eine Gans für zwei. Das ist mehr, als manche in ihrem ganzen Leben haben." Vielleicht hörte er es, vielleicht auch nicht. Er bewegte sich ein wenig, murmelte etwas Unverständliches. Sie konnte nicht erkennen, ob er lächelte. Die Nacht senkte sich tiefer über Plauen. Über der Bleichstraße ruhte der Schnee schwer auf den Dächern, die Schornsteine spuckten nur noch wenig Rauch. Die Stadt hielt den Atem an, einen Moment lang zwischen Heiligabend und dem Morgen, der kommen würde. Dann, ganz langsam, wurde es wieder heller. Das Schwarz der Nacht wich einem tiefen Blau, das sich in ein zartes Grau verwandelte. Über den Dächern, hinter den kahlen Ästen der Bäume, erschien ein erster heller Streifen. Der Himmel bekam Konturen. Die Sonne kroch hervor, vorsichtig, als wüsste sie, dass sie ein Geheimnis nicht verraten durfte. Ihre Strahlen fielen auf die verschneite Stadt, ließen die Kristalle auf den Fensterbänken glitzern, als hätte jemand dort Diamanten verstreut. Die ersten Schritte von Milchmädchen, Arbeitern und Händlern zeichneten Spuren in das Weiß. Jemand schob einen Schlitten über das Pflaster, das Holzbrett kratzte leise. Auch vor dem Haus in der Bleichstraße blieb der Schnee nicht unberührt. Eine Katze zog ihre Spuren, schnupperte an der Tür und verschwand wieder. In der kleinen Wohnung über der Werkstatt hing der Duft von Gänsebraten und Rotkraut noch lange in der Luft. Wie eine Erinnerung daran, dass es manchmal genügt, wenn zwei Menschen und eine Gans zusammenkommen.